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Duygu Ağal über Liebe, Zeit und YENİ YEŞERENLER

Interview: Deniz Bolat

Es ist ein warmer Herbsttag und ich wander mit meinem Fahrrad durch Neukölln auf dem Weg zu Duygu Ağal, um ihn über sein neues Buch YY zu interviewen. Angekommen im Hof schließe ich mein Fahrrad an und steige die Treppenstufen mühsam hoch, bis zu einer grün angestrichenen Tür, wo mir Duygu mit nassen Haaren und Jogginghose grinsend aufmacht. Wir setzen uns auf ihren Balkon und Duygu stellt Snacks und einen warmen Ingwer-Zitrone Tee bereit. Im Hof ein leergelassener Pool mit rostiger Schaukel und leeren Joghurt Eimern, umringt von gelb bis orange getränkten Baumkronen. Ein paar Vögel zwitschern, Duygu föhnt im Background sein Haar. Ich krame in meinem Rucksack und ziehe einen Notizblock hervor, den ich am Ende nicht wirklich benutze – zu sehr werde ich in unser Gespräch vertieft sein.


Selam Duygu, ich dachte, ich mache auf professional mit meinem Block und meinem Stift. Am Ende schreibe ich eh nichts auf

Aynen, ich kenn. Man ist so eine Seite richtig dabei und dann ist man so - ganz ehrlich - meine Hände kommen eh nicht hinterher.

Safe (lacht). Es ist alles entspannt, wir können am Ende immer noch gemeinsam gegenchecken und du kannst nachträglich Dinge ergänzen, wenn du magst.

Geil 

Du warst in diesem Jahr schon viel auf Tour mit YY – how is it ?

Es macht des Grauens Spaß muss ich gestehen. Man reist ständig von Ort zu Ort und liest und spricht mit wahnsinnig interessanten Menschen und das für Geld. Aber ich sag wie es ist: Ich hab auch schon Panels gehabt, wo ich dachte: “Uff was seid ihr für Moderatoren Digga.” Schon so ein Trugschluss in der “liTeRarIsCheN” Welt auf ausschließlich genuin interessierte Menschen zu treffen, vielleicht aber auch nur meine Naivität. Egal, auch ein krasses Privileg und ich muss meine Miete bezahlen.

Ich ahne 100%

Sowas wie:  YEHNIE JESCHERENLÄR, was heißtn das? Ich bin so: Digga, kriegst du nicht 500€, dass du das Ding moderierst? Yani - Amazon hat sogar eine ganz okay Rezension geschrieben. Weißt du, wie ich meine? 

(lach)

Also, man kennt, weißt du? (lach)

Ja verstehe, ich gehe auch gleich noch auf den Titel YY ein – oder vielleicht machst du das direkt. Wie du magst. Bei uns war Benjamin Radjaipour in der Moderation und es hat sich angefühlt wie eine Performance, in der Benjamin Autor*in gespielt hat und du die Rolle der Moderation. Es war unterhaltsam.

Hey, das war mega cute. Benjamin und ich haben ja die erste Lesung kurz vor Release im Roten Salon an der Volksbühne gehabt und danach ist tatsächlich auch noch ne wahnsinnig süße Freund*innenschaft entstanden. Wir waren ein quasi schon eingespieltes Team, was Showtime für uns mit YY angeht und man muss einfach sagen: Benny ist einer der scharfsinnigsten, witzigsten und emphatischsten Menschen, die ich kenne. Sprich, 40 Grad in der Sonne, Benny hosting/presenting YY und danach ein bisschen abhängen mit den ganzen Cuties vom Fuchsbau Team. Mehr geht nicht. Ich würde sagen: nur die Leute, die da waren können beschreiben, was das für eine geile Ambivalenz war zwischen uns auf der Bühne. <3

Speaking of Ambivalenz auf der Bühne: Im diesjährigen Literaturprogramm haben Alex Jarewski und ich uns mit Themen von queeren Zeitlichkeiten beschäftigt, aber auch mit einer Kultur des Erinnerns und der Konstruktivität von Geschichte und ihrer Narration. Neben einer Lesung aus „Vergangenheit vorhersagen“, einem Magazin, welches im Rahmen einer Prosawerkstatt am D’Haus unter der Leitung von Autorin und Kuratorin Luna Ali stattgefunden hat, hatten wir außerdem Zehra Doğan im Gespräch mit Havin Al-Sindy zu der Übersetzung von „Briefe aus dem Gefängnis – Wir werden auch schöne Tage sehen“ zu Gast. Ein aufwühlendes Programm, in dem unter Anderem auch dein Debüt Platz gefunden hat. Was bedeutet Zeit als soziales Konstrukt für Dich?

Natürlich weiß ich durch meinen universitären Kontext, dass Zeit ein koloniales Konstrukt ist, das im Westen stark etabliert ist. Mit dem wir alles messen: wohin wir gehen, wo wir uns befinden, was wir tun, wie wir “unsere Zeit” gestalten und womit wir sie meistens verbringen. Also in meinem Fall: Schreiben, um zu überleben oder sich Zeit frei zu kaufen mit anderer Lohnarbeit - um zu Schreiben. 
Auf den Roman gespannt ist es viel mit Erinnerung und Archiv verbunden. Zeit ist für Derin eine Art Archiv, an dem sie sich bedient, wie sie will. Deswegen schreibt sie manchmal in der Gegenwart, manchmal erzählt sie von vor zehn Jahren mit ihrer Mutter im Auto, manchmal projiziert sie ein bisschen in die Zukunft, um sich jede Situation auszumalen, wie sie will, ohne ein queerer Held sein zu wollen. Entweder zeichnet sie eine sehr pessimistische Zukunft, oder sie ist nicht in der Lage es besser zu machen und sagt einfach: „Ey, es ist alles Scheiße und es wird alles Scheiße bleiben.“ Mit Bezug auf Liebe auch ganz viel. Deswegen habe ich das Gefühl, dass im Buch das soziale Konstrukt von Derin’s Zeitlichkeit voll oft gestört wird. Also sie hat keinerlei Intention irgendeine Art von Chronologie zu bauen, deswegen sagen mir viele Leute auch: gegen Ende des Buches schwimmt man irgendwie. Man weiß gar nicht mehr, wo man ist und das freut mich voll, weil ich es als total schwierig empfunden hab, Zeit oder Zeit als solches zu dekonstruieren, ohne theoretisch zu werden. YY ist im Endeffekt ein Roman und kein Sachbuch, das die Zeitlichkeit von Queerness verhandelt, sondern nur queere Geschichten, oder - nicht nur - queere Geschichten erzählt. 
Deswegen ist es eigentlich in meiner realen Welt - wo ich gerade bin, wo ich nicht lügen kann, wo ich das einfach als Messparameter sehe, wie ich wo sein kann - ein Konstrukt um genug Zeit zu haben, um Freude zu erleben und Freude auch zu erzeugen mit den Dingen, die ich mache. Aber auch die Dinge, an denen ich arbeite, die mir dann im Endeffekt eine Art von Zeit erschaffen. Also eine Art von freies Vakuum, was nicht bestimmt ist durch irgendwelche Deadlines oder so weiter. 
Ich glaube ich kann Zeit gar nicht richtig queeren, weil ich - realtalk - in so viel Arbeit stecke gerade, dass ich mir durch die Arbeit, die ich mache, versuche Zeit zu kaufen, um eigentlich das zu machen, was wir alle eigentlich versuchen zu machen: einfach zu Sein um zu überleben. Ich merke gerade voll, dass ich in diesen hustle life Deadlines stecke. Dann freue ich mich manchmal wieder aus dem Buch zu lesen, weil Derin und Co es schaffen müheloser durchs Leben zu gehen, als ich es kann. Sie bedienen sich an Zeit, wie sie wollen oder vielleicht mache ich das nur an der Form des Romanes fest, an der ich ja auch eine – oder sehr oft die – maßgeblich gewaltvolle Position in der Bestimmung der Zeit, des Archivs, innehabe. Stichwort: Saidiya Hartman “Violence And The Archive”
Entweder sie sind da oder sie sind eine Person in einem gegenwärtigen Moment, die von vor 20 Jahren spricht, oder in einer Zukunft von 40/50 Jahren spricht, ohne diese Zeitabschnitte zu definieren. Sie schaffen es in der Sprache, in der sie sind, die Gegenwart scharf zu analysieren, aber benennen sie nicht als solche. Sie sind im Moment. Die Kids aus YY können das besser als ich: Zeit queeren und einfach flaxen. Sie haben gar nicht vor, Zeit zum Mittelpunkt zu machen, um sich daran abzuarbeiten.

Keine Zeit, Zeit zu queeren. Spannender Take. Dennoch schaffst du es ja gerade in deinem Roman eine queere Sprache zu finden, die durch ihre Dramaturgie Zeit dekonstruiert. In welcher Verbindung, würdest du sagen,  steht der Titel deines Debüts „YENI YEŞERENLER“ zu Queerness und warum hast du diesen Titel gewählt?

Der Titel bedeutet übersetzt, eigentlich voll metaphorisch,: „Grün werden - Blätter bekommen - wachsen, gedeihen“ und YY ist quasi die Beschreibung der Heranwachsenden. Also eigentlich eine Allegorie für die neuen Kids, die neue Generation, die irgendwie was vorhaben. Es hat ein bisschen so etwas Aufbrecherisches, so etwas Freches und irgendwie hat den Titel meine Mutter verliehen: Ich habe nicht gewusst wohin mit mir Titel-Wise, weil ich war so: „Es darf jetzt nicht sowas melodramatisches sein, auf gar keinen Fall etwas queeres im Titel.“ Ich hatte keinen Bock auf so ein self Brandmarker, verstehst du?

Ich fühle wieder 100%

Also entweder es entsteht in den Stories - und es ist bis Dato nicht passiert - oder du stehst ohne da. Nicht mittendrin, nicht am Ende. Kein Titel. Deswegen habe ich meine Mutter angerufen und war so: „Hey Mama, guck mal, ich schreib grad so ein Buch.“ Und sie war so: „Ja hey, erzähl mal, worum gehts da?“ und ich so: „Naja, so abgespeckt gehts so um Familien und Freund*innenschaft und Verliebtsein und die Kids sind alle voll jung und sind alle so ein bisschen aufmüpfig, aber auch voll sensibel, aber voll vibe-conscious, was so ihre Umwelt angeht.“ (Das Wort hat mir mein*e Kolleg*in Eva Tepest gesteckt, als wir bei SheSaid über YY gesprochen haben, liebe ich!)  Und weil sie gerade im Garten stand, war sie so: „Dann mach doch auch einfach Yeni Yeşerenler“ und ich so: „Weißt du was, das wars. Das ist der Titel“

Punkt.

Literally.

Und in welcher Verbindung steht der Titel zu Queerness? Was bedeutet queer temporality für Dich?

Queer temporality, für mich, bedeutet: dieses sich nicht-Aneignen, was das westliche Zeit Konstrukt bedeutet - sondern mit dem Wissen, was es gibt, ohne dieses als Zentrum der Zeitvermessung zu sehen, eine neue Art von Zeitlichkeit zu erschaffen. Bezogen auf das Buch in erster Linie: gewaltvolle Archiv Erschaffungen, Einnahmen von Perspektiven, die außerhalb des heteronormativen Spectatorships sind. Und diese nicht mehr durch ein Anprangern dieser Zeitmessung versuchen zu etablieren, sondern direkt eine Praxis zu entwickeln, neue Narrative zu erschaffen und umzusetzen, die in einem idealen Leben schlussendich alles queert, in Frage stellt, kritisch hinterfragt. Und das passiert in dem Buch viel über mündliche Überlieferungen, Erzählungen, die durcheinander sind. Nicht, weil sie alles durcheinander machen wollen, sondern weil das eine Art von Praxis ist, die alle Protagonist*innen in YY in sich haben. Dass sie dadurch, weil sie diese Blockaden haben übereinander zu sprechen, viel miteinander zum*zur Leser*in sprechen und dadurch eine ganz andere Zeitmessung erschaffen. Weil die erhofften Dialoge untereinander nicht passieren, weil sie Erwartungen aneinander haben oder derbe verletzt sind. Oder kein Vertrauen haben. Sowohl gut als auch schlecht. Und diese Erzählungen entstehen entweder in die Zukunft projiziert oder genau in dem Augenblick, in dem sie voreinander stehen. Sie sprechen. Aber nicht zueinander, sondern in Monologen, in denen sie sich entweder in der Vergangenheit befinden oder einen ganz eigenen Moment kreieren, in dem man am Ende des Buches so ist; "Okay, wo sind wir jetzt? Hamburg, Berlin? Sind wir auf diesem heiligen Geist Berg mit Canan und Seyda? Wo sind wir eigentlich?" 

Es ist so, im besten Sinne gemeinte Willkür, die alle Protagonist*innen unter sich – unabgesprochen – praktizieren und damit eine Art von ganz neuem Geflecht von Zeitkonstruktion schaffen. Es wird aber nicht als solches benannt, um es nicht in irgendwelche Schubladen zu stecken.

Entwicklung spielt auch eine große Rolle, verschiedene Prozesse werden durchlebt. Und diese Performativität des eigenen Seins ist sehr fluide, wie es eben dort passiert, im Kontext mit den verschiedenen Protagonist*innen und deren Beziehung zueinander. Wie du auch schon gesagt hast: es geht abgespeckt irgendwie um Freund*innenschaft geht, um Familie, um Liebesbeziehungen oder Konzepte von Liebesbeziehungen. Verzerrt, aber auch irgendwie traditionell – oder dem entgegenstehend. Im großen Sinne auf Erinnerungen aufbauend, in die Zukunft blickend. Du hast von den Liebesbeziehungen gesprochen und den Monologen der Protagonist*innen zueinander, deshalb frage ich mich: Wer ist deine Lieblingsfigur und wie entwickelt sie sich im Laufe der Geschichte? 

Uh, das ist eine richtig gute Frage; also am Anfang war meine Lieblingsfigur auf irgendeine komische Art und Weise Seyda.

Warum?

Weil sie allen Erwartungen trotzt, ohne dabei dieser vermeintlich „queere Messias“ zu sein. Seyda an sich ist ja schon derbe gemein und, in Teilen, sehr homophob gegenüber Derin und Canan, hat aber so diese krass komplexe, toxische Loyalität gegenüber Canan. Und wahrscheinlich hat sie die meisten Erwartungshaltungen der Gesellschaft gegenüber inne, weil sie diese erfolgreiche Frau ist, die wunderschön ist, was auch immer das bedeuten soll, und irgendwie eine, akademisch gesehen, gute Laufbahn hinzulegen scheint. Weil sie, ohne das zu benennen, dem Ganzen überhaupt keine Aufmerksamkeit schenkt.
Ich habe sie von Anfang an dafür bewundert, wie eiskalt sie ist, weil sie alles irgendwie, ja, kalt lässt und gleichzeitig aber so minimale Momente herrschen, in denen sie Canan ihre Loyalität zuspricht, ohne es explizit zu benennen, was ja eigentlich das Problem in deren Freundschaft ist. Die machen ja nie irgendwie Realtalk und besprechen mal, was bei denen abgeht. Stattdessen gibt es immer diese Zwischenmomente, wo ein oder zwei Sätze signalisieren sollen, dass sie einander wohlgesinnt sind, obwohl sie sich die ganze Zeit wie Arschlöcher verhalten. Gleichzeitig entgehen sie dieser Erwartung einer klassischen  Busenfreund*innenschaft. Deswegen feiere ich jetzt nicht ihre Freund*innenschaft, aber die Art und Weise, wie sie zu sich selbst stehen in Beziehung zu der Gesellschaft. Deswegen fand ich Seyda am Anfang derbe krass, obwohl sie im Buch derbe unsympathisch ist. Aber vielleicht ist das auch eine Sache, die mir gefallen hat, weil: Dann ist sie halt unsympathisch, juckt ja auch nicht. Weißt du, juckt sie überhaupt nicht. 
Und gegen Ende, beziehungsweise was ist ein Ende überhaupt? Wann ist das Buch zu Ende? Ich lese es zum Beispiel immer und immer wieder. So viel zum Thema Zeittlichkeit (lach) 
Was es auch immer bedeutet, ein Buch anzufangen und damit aufzuhören. Jetzt habe ich natürlich ein ganz anderes Gefühl dazu, aber irgendwie finde ich den Vater von Derin auch irgendwie cute, owohl er nur sehr selten vorkommt. Und nicht nur umschwiegen wird - er hat ja auch diesen sehr präsenten Dialog wo Cemal und Derin im Kino sind und dann geht alles nach hinten los und die streiten sich, weil sie diesen „Blau ist eine warme Farbe" gucken. Die Art und Weise wie der Vater Derin signalisiert, dass sie eine coole Schwester und eine coole Freundin ist, dass Cemal was verpasst wenn er nicht mit ihr abhängen will - aus welchen Gründen auch immer - obviously weiß er nicht was passiert ist - aber an und für sich fand ich diese Stelle irgendwie richtig schön. Er war nicht diese klassisch strafende Vater Figur - sondern erkennt, dass sie verstimmt ist und ihr dann zum Beispiel Essen macht. Gleichzeitig ist es in diesem fast schon kumpelhaften Dialog, wo er zu Derin sagt: „Ey egal was gerade passiert - du bist eine ziemlich gute Freundin und eine nice Person mit der man abhängen sollte, deswegen ist es sein Problem, wenn er nicht mit dir abhängen möchte“ - Für mich sind es die kleinen Stellen.

Welche Rolle spielt Erinnerung in YY?

ALLES. Ich schwör; Erinnerung ist alles in dem Roman, weil niemand sich so richtig an Erinnerung abarbeitet, aber es so als Archiv für sich abruft in dem Gefühle verhandelt werden oder zueinander in Beziehung gesetzt werden und ich glaube dadurch lebt der Roman eigentlich. Wenn mich Leute fragen worum geht es darin, dann kann ich wenig Etappen Weise sagen was passiert, weil an und für sich sind die Aktionen als solche ja nicht irgendwie sinnstiftend für was gerade verhandelt wird; also ob es jetzt auf dem heiligen Geist Feld ist oder im Auto und wir fahren jetzt über diese flache norddeutsche Landschaft - oder sind an Weihnachten bei diesem Girl, in das sich Derin verliebt und übelst lange braucht damit sie ihre Schwester überreden kann, dass ihre Mutter sie dort schlafen lässt. Erinnerung ist das, worauf sich alle Leute in dem Roman berufen können als was enorm wichtiges für deren Entwicklung aber auch für deren Weltverständnis. Also es fängt ja damit an, dass sich alle plötzlich auf diese Kindergarten Szene zurückbesinnen und dann anfangen über Geschlechtlichkeit oder Gender oder Sex oder Liebesbeziehungen oder Freundinnenschaften, die amouröse Züge haben, nachzudenken. 
Deswegen glaube ich, dass Erinnerung gerade in Bezug auf diese Kindergarte -Szene, die ja irgendwann fast wie so ein Verschnitt der Dominanzgesellschaft wirkt. Weil die Erzieher und die Eltern die die Kids abholen, aber auch die Mädels die zwischen acht und zehn Jahre alt sind und schon solche gesellschaftlichen Rollen inne haben, sich gegenseitig zu kontrollieren auf Geschlechtlichkeit zu untersuchen und festzunageln wer jetzt Mann und Frau ist - oder in dem Fall Junge und Mädchen. Ob und wieviel man füreinander empfinden kann und ob man das zeigen kann. Um die Gesellschaft in der sie leben zu legitimieren, wo wie Seyda das zum Beispiel macht: 
Wir sind jetzt wo wir sind und es ist so wie es ist und es gibt Frau und Mann und so laufen Beziehungen und so laufen Freund*innenschaften. Aber auch Canan, die ein sehr heteronormatives Leben führt aber durch ihre Erinnerungen Risse der Zeit zu analysieren wo sie eigentlich schon einen kindlichen Instinkt dafür hatte, dass dort irgendwas gefährliches ist. Und das in dem Punkt ihre Eltern waren oder die Kids, die von den beiden wissen; ok Derin und Canan dürfen nicht knutschen weil irgendwas ist da was nicht sein darf. Wir dürfen nicht sagen was es ist - wir dürfen auch nicht wissen was daran schlimm sein soll, aber es ist ein kollektives Gefühl von das ist nicht gut und das müssen wir kontrollieren. 
Für Derin, die Pionier-mäßig durch das Buch reitet und irgendwie voll oft diese Szene mit Canan vor Augen führt - bedeutet Erinnerung auch eine Art von Geflecht von Archiven und verschiedenen Erinnerungsformen: Alle haben ihre Erinnerung auf die Sache. In dem Roman eint der Aspekt der Erinnerung, dass sie mehrmals vorkommt aus verschiedenen Perspektiven, und dadurch entweder versucht zu rechtfertigen, wo sie gerade sind, oder in eine Zukunft zu projizieren, die vielleicht weniger schmerzhaft ist. 
Weil alle am ende sich einig sind, dass in diesem Hort irgendwas off war und sich alle entschieden haben anders damit umzugehen. Erinnerung ist also das, was in erster Linie alle Protagonist*innen verbindet.

Du hast gerade den Gegensatz von Erinnerung angerissen; Zukunft. Erfahrungen und Erinnerungen an Erfahrungen bilden die Vorreiter der Zukunft. Was denkst du wie wir über Zukünfte spekulieren können, sie gemeinsam erschaffen – oder die Protagonist*innen in YY? So wie du Derin als Pionierin beschrieben hast, die durch das Buch läuft und ihr Ding macht, aus diesen Erinnerungen etwas schöpft und im Kontext von queer temporalities eine neue Zeit schafft in der sie die Chance bekommt neu aufzublühen?

Ich glaube wie Derin das macht ist, dass sie erstmal alles was in der Vergangenheit liegt; sprich Kindergarten, aufwachsen mit ihren Brüdern, Aufwachsen in nem Viertel- dass sie das erstmal komplett negiert, weil so viel Schmerz, angefangen in diesem Hort, in ihrer Kindheit sehr präsent ist, durch den sie nicht für immer definiert sein möchte. Sie sagt ja auch an einer Stelle in einem ihrer Monologe zu ihren Eltern (mehr zu ihrer Mutter), dass sie nicht so sein möchte, wie sie sie gemacht haben. 
Da sind Widersprüche drinne, und zwar, dass Derin an so vielen Stellen so schön über ihre Eltern redet und über so viele Seiten Zeit lässt die Beschaffenheit ihrer Haut zu beschreiben oder wie ihre Hände aussehen oder was ihre Hände können, was sie gebaut haben. Was ja auch alles so Erinnerungen sind, die sich in Gegenständen manifestieren. Wie diese Eckbänke, die Derins Mutter baut weil deren ihr ein Tablet schenkt auf dem sie auf YouTube Bau-Tutorials schaut und an anderen Stellen aus dieser Form reißt.
Ich glaube das Derins Form von Zukunfts Neudeutung erstmal durch die komplette Ablehnung einer Vergangenheit beginnt, was in Bezug auf queere Zeitlichkeit ja auch derbe frech ist, weil es muss immer eine Vergangenheit geben aus der man eine Zukunft kreiert. Ich glaube dass Derin das voll schlau macht, in dem sie schaut, was in der Vergangenheit schlechtes Widerfahren ist durch Menschen. Ich glaube, dass Derin sich im lauf des Buches nie über Situationen beschwert, die nie von Menschen direkt an sie gerichtet waren. Sowas wie; sie wurde von Canan verletzt, sie wurde von ihrer Mutter verletzt, sie wurde von ihrer Therapeutin verletzt. Es gibt eigentlich keine Umstände, über die sie sich beschwert. Deswegen analysiert sie immer alles zu Tode und aktiv in ihrer Zukunftsgestaltung, so Kontrollfreak das klingen mag. Und vielleicht ist das auch meine Herangehensweise, dass ich mir bewusst aussuche, welche Faktoren die mit meinen Erfahrungen und meinen - in dem Fall: Schmerzen aber auch schönen Erfahrungen vllt so Key sein können um gewisse Utopien, die man vielleicht in der Theorie gelernt hat, ob das verschiedene Lebenskonzepte angeht, mitnehmen kann ohne Dinge die sie in der Vergangenheit über Liebe gelernt hat zu vergessen. 
Derin lernt das von ihrer Mutter und beginnt Dinge zu akzeptieren und Bilder in die Zukunft zu werfen. Wie will ich das noch beantworten? Vallah, geile Frage lan. Ich bin so: ne diyim? (lach) 

Alles gut, hast ja alle Zeit der Welt darüber nachzudenken und mir noch eine Memo zu schicken. Oder eine SMS. Ist alles nicht so gesetzt, du weißt. Ich habe noch eine letzte Frage, du hast schon sehr viele tolle Sachen gesagt bis hierhin – danke für dein Vertrauen und alles – 

Normal

Du hast mich aufjedenfall nochmal zum Denken angeregt 

Du warst so „Bruder ich will auch was sagen“ (lach)

(lacht) Vielleicht. Zwischendurch dachte ich so: Ey weißt du es hat einen Lauf, weißt du wie ich meine, ich wollte dich nicht unterbrechen und stelle dann so random Fragen zwischendurch.

Aber deine Fragen sind vom anderen Stern, muss ich ehrlich sagen. Nicht Schlecht. 

Danke Bre, meine letzte Frage ist: Wenn YY ein Lied wäre, welches Lied wäre es?

Cüs, was ist das für eine Frage. Warte kurz… Ich glaube YY wäre so ein Set. Weißt du was ich meine? So ein zwei Stunden Set mit so richtig slow R&B aber auch tbh es könnte auch sogar in Teilen ein bisschen Punk sein. Nicht mit steigender Mood, sondern es fängt mit Ambient an, dann kommt Slow R&B dann ein bisschen Jungle, dann es geht ein bisschen runter. Auf einmal sind da plötzlich kurdische Vocals drinne und es kommt ein Pop Song von Kayahan oder so. Eigentlich so ein bisschen - ah warte dann kommen auch diese ganzen 2000er Banger mit so Remix von Lauren Hyll, JOne - diesdas - Farell undsoweiter. Ich glaube das wäre so ein Set, was eine Hommage an die 2000er ist, wobei auch an die 80er, dann so Damar, kurdisch-türkische Musik, dann plötzlich übelst experimentelle Musik in Teilen. Da kommen mir diese Monologe in den Sinn, also wie zum Beispiel Derins’ Gehirn funktioniert: Wie sie immer alles zu Tode analysieren muss und sich übelst Wide Conscious, das Wort habe ich von Eva gelernt, durch ihre Umwelt bewegt. Also ich glaube YY als Set, das wären schon zwei Stunden - man würde es auf Soundcloud finden. Ohne Spaß ne, das könnte ich mal shoutouten bei Insta - Digga Leute will nicht jemand ein Set zu YY aufnehmen. So Moodwise.

Mach. Ich würde reinhören. Ahnst du ich dachte so Trick ich stelle letzte Frage bisschen auf kreativ erwarte so es kommt ein Song ich pack den so ans Ende von dem Interview und du kommst mit zwei Stunden Set? Ich hab einen Song erwartet aber feier, dass du mich gelinkt hast, weil das irgendwie auch für dieses Debüt steht. Es geht um Zerissenheit, Nähe, Distanz und verschiedene Arten zu Lieben und es macht einfach voll Sinn. Ich wollte dich ein bisschen intriguen mit dieser Frage und am Ende kamst du mir voraus, was ich aber nice finde – weil es ist bisschen YY Style. Weil man fühlt sich so, wenn man ihn liest. Man ist kurz verwirrt dann ahnt man wieder etwas, wenn man verschiedene Fetzen ananeinader reiht. Ich würde sagen wie eine Orientierungslosigkeit und gleichzeitig den Mut, weiter zu gehen. Auch ein Stück Naivität, die du literarisch und dramaturgisch einfach durchziehst.

Ja, vielleicht ist diese Orientierungslosigkeit genau das, was wir von ihrer wörtlichen Semantik her, mit westlicher Zeitlichkeit verbinden und zwar: Wir fühlen uns orientierungslos in diesem Roman, weil wir Zeit irgendwie anders gelernt haben und deswegen ist vielleicht „queer temporality“ dieses sich komplett durch navigieren können in einer Orientierungslosigkeit die eigentlich das ist, was nicht der Antagonist zu „Zeit“ ist sondern eigentlich was wir als Zeit verstehen wollen, als queere Menschen oder Menschen die queere Realitäten leben. 
Weißt du wie ich meine?

Ich weiß voll was du meinst. Ich finde das ist auch ein super toller Satz mit dem man enden kann.

Aynen Diggi, Danke.

Ich stoppe meine Handyaufnahme, schlürfe an meinem inzwischen kalten Tee und drücke Duygu einen Filter von mir in die Hand und hoffe innerlich, dass die Aufnahme zu hören ist. 


Vita

Duygu Ağal (Sie/Er) ist Autor:in und Moderator:in. Der:Die in Hamburg aufgewachsene:r, lebt und arbeitet in Berlin. Ağal studiert zudem Amerikanistik an der Humboldt Universität zu Berlin und hat nun seinen Debüt Roman „Yeni Yeşerenler“, in Kollaboration mit dem Berlin Korbinian Verlag veröffentlicht. In ihrem Erstwerk verhandelt Ağal Missgunst in Freund:innenschaften, neue Familienformen, lesbische Liebe und vor allem eines: die Gefühle der vier Protagonistinnen. Viel mehr durch Gefühle als durch Narration versuchen sich die Protagonistinnen Ağals in einer Welt zurechtzufinden, die auf den unterschiedlichsten Ebenen nicht für sie gemacht zu sein scheint.

Foto: Joanna Legid