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Im Zweifel für den Zweifel

Luna Ali

Lenin stirbt und kommt in die Hölle. Weil Gott bereits viel von ihm gehört hat, ruft er den Teufel an und fragt nach, wie Lenin sich in der Hölle so mache. Der Teufel: „Schrecklich! Seit Tagen herrscht hier Streik an den Kesselöfen!“ Gott, ganz überrascht, bittet den Teufel, Lenin zu ihm zu schicken. Es vergehen einige Monate und der Teufel macht sich Sorgen um Gott. Er ruft ihn an und fragt: „Und Gott, Allmächtiger, wie macht sich Lenin bei dir?“ Darauf Gott: „Erstens, du störst gerade unsere Arbeiterratsversammlung. Zweitens, heißt er nicht Lenin, sondern Genosse Lenin, und drittens, ich existiere eigentlich gar nicht.“

Das war der Lieblingswitz meines Opas. Ich erzähle diesen Witz gerne. Nicht nur weil er so viel über meinen Opa erzählt oder mich in ein anderes Licht rückt, sondern weil dieser Witz eine Überraschung birgt: Mein Opa war ein syrischer Kommunist.

Heiner Müllers Vater floh angeblich aus der DDR, weil er kein Stalin-Bild in seinem Büro hängen hatte. Mein Opa wurde aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, weil er nach Stalins Tod sein Bild nicht von der Wand abnehmen wollte. Für ihn war Stalin der Mann, der die Welt vom Faschismus befreite, ein Held trotz allem. Meine Mutter erzählte mir, dass er noch Monate nach seinem Parteiausschluss betrunken nach Hause gekommen sei.

Wenn man sich an einen verstorbenen Menschen erinnert, dann besteht darin ein Problem für den Verstorbenen. Der Verstorbene kann sich nicht gegen die Erinnerungen wehren, die mit ihm in Verbindung gebracht werden. Sein Leben wird zum Text, denn der Autor ist verstorben. Sein Leben steht somit für jede Interpretation offen, die die Zeichen in sich bergen.

Bis in seine Zwanziger hinein war mein Opa ein tiefreligiöser Mann. Er war ein Suchender, nach einem Leben, in dem den Menschen Gerechtigkeit widerfährt, in dem sich nicht mehr die Frage nach dem Fressen und der Moral einstellen würde. Aus diesem Grund studierte er Jura. Eine Zeit lang war er einer von wenigen Anwälten in Aleppo. Eines Tages hielt er das „Der Ursprung der Familie, des Privateigentum und des Staats“ in den Händen, es überzeugte ihn. So wurde aus der religiösen eine andere Radikalität.

Mein Opa wurde ein Kommunist. Wenngleich auch Marx behauptete, dass ein Kommunist per se radikal sei, so war mein Opa nicht nur ein Kommunist, sondern eben ein radikaler Kommunist. Diese Radikalität ist nur in ihrem Kontext verständlich. Der Kontext, in dem er politisch handelte. An Ramadan setzte er sich auf offener Straße hin und aß zu Mittag. Meine Mutter erzählte es immer als Beleg einer Provokation. Ich glaube, es war mehr ein Akt politischer Freiheit. Er wollte den Menschen zeigen, dass sie eine Wahl hatten, in einem Land, in dem es eigentlich keine Wahlen gab. Aber wahrscheinlicher war wohl, dass es als Provokation aufgefasst wurde.

Sein Verhalten tat seinem Ansehen keinen Abbruch. Er war nicht nur gebildet, ein Anwalt, den man Sido, M3alem oder Istaz nannte, sondern auch jemand, dem die meisten Menschen in seinem Viertel etwas schuldeten. Denn er vertrat sie vor Gericht, um Geld musste nicht verhandelt werden. Er lebte lieber selbst in Armut, als seine Hilfe zu verweigern. Und weil er so handelte, wurde über seine Blasphemie hinweggesehen.

Wenn ich Zweifel darüber habe, wer ich bin, dann fange ich an mich zu erinnern. Ich fange bei meinem Opa an, als würde mit ihm meine Geschichte gleichsam beginnen, obwohl der einen die andere nur wie ein Palimpsest zu Grunde liegt. Sich erinnern heißt nicht wiedererleben. Erinnern ist ein Versuch Erlebtes trotz des Nebels der Zeit wiederzuerkennen. Im Glauben dessen, dass die Vergangenheit die Gegenwart bestimmt, folgt aus dieser die Zukunft. Aber unsere Zeit ist durcheinandergeraten. Die Zeit, so erzählt man sich, komme nun aus der Zukunft. Vorhersagen über die Zukunft werden zu Voraussetzungen für unsere Gegenwart. Welche Rolle spielt dann noch unsere Vergangenheit? Wenn wir uns schneller durch den Raum bewegen können als je zuvor, welche Rolle spielt dann noch, woher wir kommen?

Meine älteste Tante unternahm im Alter von 16 Jahren, ihrer Tante zuliebe, den Versuch, zum ersten Mal zu fasten. Sie tat es heimlich, weil sie wohl ahnte, dass mein Opa es nicht gutheißen würde, oder besser: es sabotieren würde, und so kam es auch. Am ersten Abend bat er meine Oma Essen zu machen. Die Sonne würde in zwei Stunden untergehen und das Fastenbrechen einläuten. Er rief meine Tante zu sich und sagte: „Mach mir mit deiner Anwesenheit das Essen schmackhaft.“ Sie setzte sich nichtsahnend mit an den Tisch. Er aß eine Weile allein und sagte dann: „Koste doch mal! Deine Mutter übertrifft sich jedes Mal aufs Neue.“ Und meine Oma wusste, wie man kochte, geboren in der Altstadt Aleppos. Darauf meine Tante: „Nein, nein. Ich habe keinen Hunger.“ Er ließ es nicht gelten und sagte: „Es ist doch nur ein Bissen.“ Und so brach meine Tante das Fasten eine Stunde vor dem Fastenbrechen und das Tag für Tag, 29 Tage lang. Er vermied die Konfrontation, wollte sie nicht bloßstellen, seine Regeln gebrochen zu haben und setzte seine Regeln trotzdem durch. Denn in diesem Haus würde nicht gefastet werden. Denn in diesem Haus würde keine Seele vor dem Fegefeuer gerettet werden, die sich nicht im irdischen Leben selbst retten könnte. Vielleicht verstand er aber auch den Wunsch seiner Tochter der Tante zuliebe zu fasten. Aus meiner Tante wurde derweil eine pflichtbewusste Frau.

Nachdem sie die Schule beendet hatte, studierte sie, was zu dieser Zeit außergewöhnlich war. Als sie heiraten wollte, betrug ihre Mitgift gerade mal eine halbe Lira. Der damalige Standesbeamte weigerte sich eine so geringe Mitgift einzutragen. Er forderte meinen Opa zum Umdenken auf. Er könne doch seine älteste Tochter nicht unter Wert verheiraten. Sie habe studiert, übe einen Beruf aus, stamme aus einer angesehenen Familie. Sie sei doch viel mehr wert. Mein Opa antwortete nur: Ja, das ist sie. Eingetragen wurde eine halbe Lira. Vielleicht war meinem Opa Geld wirklich egal. Vielleicht wollte mein Opa nur, dass meine Tante den Mann heiratete, den sie sich ausgewählte hatte. Vielleicht wollte er aber auch nur das Mitgiftsystem ad absurdum führen.  

Die Geschichte eines Menschen kann auf verschiedene Art und Weise erzählt werden. Biografien werden erzählt, weil sie aus irgendeinem Grund für erzählenswert gehalten werden. Dabei erscheinen die Lektionen, die wir von diesen Geschichten mitnehmen können, als erzählenswert. Lektionen ergeben sich aus dem Vergleich zwischen unserem Leben und dem Leben der anderen. Aber was, wenn das Leben, wovon erzählt wird, wie das Leben nun mal ist, aus Widersprüchen, Fragmenten und unzusammenhängenden Momenten besteht. So bricht man das Leben auf einige Thesen runter. Dabei stellt sich die Frage nach dem Erzählen selbst, welche Momente erzählt werden können, welche verschwiegen werden müssen, welche erst im Verlauf der Geschichte offenbart werden dürfen. Und wie kann man verhindern, dass eine solche Geschichte, eine Lebensgeschichte, zugleich bedeutungsschwanger, aber nicht schwer im Magen liegt?

Mein Opa war für unkonventionelle Entscheidungen früh bekannt. Er ließ sich nicht beirren. Auch in seinem eigenen Heiratswunsch. Der Bruder meiner Oma, ebenfalls Mitglied der Kommunistischen Partei, vereinbarte eine Verabredung mit meinem Opa in einem Café. Er nahm meine Oma mit in dieses Café, stellte beide einander vor und verschwand – ein ungeheurer Verstoß gegen die damaligen Sitten. Zwei junge Menschen, eine Frau und ein Mann, unverwandt, sich zuwendend. Ich habe mir diese Geschichte immer wieder von meiner Mutter erzählen lassen. Dabei stellte ich mir vor wie sie in einem schicken, aber sehr vollem und verrauchten Café saßen und nicht recht wussten, was sie einander sagen sollten. Im Hintergrund spielte jemand vielleicht auf dem Klavier, alles ein bisschen französisch – ein Überbleibsel des Kolonialismus.

Die Frau seiner Wünsche war Analphabetin, eine Arbeiterin in einer Zigarettenfabrik, aus armen Verhältnissen und ihre Haut war einen Farbton zu dunkel. Eigentlich käme eine solche Frau für ihn nicht in Frage. Seine Mutter machte einen Aufstand, den sie aber sogleich verlor. Denn meine Oma war auch Gewerkschaftlerin. Sie hatte im Alter von 16 Jahren den ersten Betriebsrat in Aleppo gegründet. Sie war Mitglied der Kommunistischen Partei, wo sie Schreiben und Lesen lernen würde. Das muss meinen Opa beeindruckt haben und trotzdem sah er sich als ihren Retter an. Er würde sie aus diesen jämmerlichen Verhältnissen befreien.

Meine Großeltern heirateten, bekamen neun Kinder, von denen sieben überlebten. Die Familie wuchs Jahr um Jahr und die Jahre waren turbulent. Als sein erster Sohn, das vierte Kind, geboren wurde, nannte er ihn Jamal Abdel Nasser. Mein Onkel ging nicht in die Geschichte ein. Er wurde nur nach jemandem benannt, der mit dem Begriff des Arabischen Sozialismus in der Geschichte einen Platz eingenommen hatte. Ein Mann, der erst den Ägypter*innen, dann vielen anderen Araber*innen endlich das Gefühl gab, selbst den Lauf der Geschichte in die Hand nehmen zu können. Die Verdammten dieser Erde sollten aufbegehren – die Vereinigte Arabische Republik entstand und hielt fast vier Jahre. In diesen vier Jahren war mein Opa ein wiederkehrender Besucher des Gefängnisses, wie viele andere Kommunisten. In einem Land, in dem Unrecht zur Normalität gehörte, sah mein Opa im Gefängnis einen Freund unter Folter sterben. Auch er sollte unter Folter gebrochen werden, er verrat den Aufenthaltsort seines Schwagers, kehrte nach Hause und verriet seinen Verrat meiner Oma. Diese eilte nachts in die Altstadt zu ihrem Bruder, der sich in einer der verwinkelten Gassen versteckte. Er suchte sich ein neues Versteck. Syrien verabschiedete sich derweil mit einem Putsch aus der Zwei-Länder-Republik, denn Kolonialisierte blieben Kolonialisierte nur unter anderer Vorherrschaft.

Als die Nachricht über den Putsch verkündet wurde, weckte mein Opa aus Freude seine Kinder auf. Sie sollten es mit ihm feiern. Einen Tag später beförderte mein Opa Jamal Abdel Nassers Bild vom Wohnzimmer ins Badezimmer über die Toilette. Mein Onkel war damals gerade mal sechs Jahre alt und verstand nicht, wie aus seinem Namensvetter plötzlich der verhassteste Mensch meines Opas wurde. Er hieß dann nur noch „der Gaul“ – Ja7sh. Das mag auch der Grund dafür sein, weshalb mein Onkel der Einzige von sieben Geschwistern war, der nie in die Kommunistische Partei eintrat. Für ihn waren Ideologien einfach zu kurzlebig, um an sie zu glauben. Aus ihm wurde ein sehr pragmatischer Mensch.

Schicksal ist, wenn dir die Entscheidung abgenommen wird. Das Verhältnis von Schicksal und Zeit besteht darin, dass beides unumkehrbar ist. Zurückzukehren ist heute keine Option, genauso wenig wie Flucht nach Deutschland meine Entscheidung war. Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht zurück nach Syrien zu kehren. Erst mit der Revolution 2011 stellte sich diese Frage, denn die Revolution schien wie die Erfüllung eines Traums. Und wie es Träume so an sich haben, bemerken wir sie erst, wenn wir aufgewacht sind. Dieser Traum, er folgt uns in den Alltag hinein, wird zum ständigen Begleiter, wird zum Albtraum. Es stellt sich eine Frage ein: Warum bedeutet mir dieser Traum so viel?

Auch wenn mein Opa ein eher dünner, ja, fast schlaksiger Mann war, hatte er einen sehr ernsten Blick, mit dem er so manch eine Verhandlung gewann. Aber weil Verhandlungen besser nicht gegen die Reichen, Herrschenden und Einflussreichen gewonnen werden sollten, was er aber regelmäßig tat, verlor er seine Anwaltslizenz. Es ist nicht ganz klar, was hier geschah. Mein Onkel behauptet, mein Opa habe sich mit einem Politiker angelegt. Meine Mutter behauptet, es sei Rache gewesen, weil mein Opa Anzeige gegen den Mörder seines Freundes erstattet hatte. Beide erzählen jedoch, dass sich mein Opa am nächsten Tag einen Gemüsestand besorgte und Gurken vor dem Gewerkschaftsgebäude, das seine Lizenz eingezogen hatte, verkaufte. Wollte er seinen Kollegen zeigen, dass er ein ungebrochener Mann sei? Dass er bereit war für seine politische Einstellung auf ein bequemes Leben zu verzichten? Keine Scham empfand mit dem Verkauf von Gurken zu überleben?

Weil das Berufsverbot nicht Strafe genug war, veranlasste man seine Verhaftung. Ein Polizist aus der Nachbarschaft warnte ihn. Mein Opa packte seine Sachen und floh. Es trieb ihn in den Libanon. Wie es viele syrische Dissidenten in den Libanon führte. Ich stelle mir vor wie mein Opa im Hamra-Viertel saß und vorbeigehenden Passanten Uhren feilbot, denn seine neue Berufung war Uhrmacher. Vielleicht hoffte er die Zeit umkehren zu können, eine Zeit, in der Revolution nicht gleich Flucht für ihn zur Folge haben würde. Vielleicht traf er hier und da auf eine berühmte Autorin oder einen bekannten Musiker. Vielleicht erkannten sie sich am Dialekt und schwärmten von dem Essen in Aleppo, um sich dann wieder auf das Hier und Jetzt zurückzubesinnen, dass es hier und jetzt eben sicherer sei. Wen man zurückgelassen hatte. Über den offensichtlichen Grund sprach man nicht. Man könnte meinen, Menschen mit extremen Erfahrungen neigen zu starken Haltungen. Aber eigentlich ist es umgekehrt. Es ist ihre Haltung, die sie in bestimmten Umständen nicht ablegen können. Sie bilden das Fundament ihrer Erfahrung.

Meine Geschichte fängt bei meinem Opa an, weil politisches Handeln die Voraussetzung für Freiheit ist. Ich bin mit dem Glauben aufgewachsen, das meine Familie anders war. Zumindest hörte ich immer den Stolz, der mitschwang, wenn von meinem Opa erzählt wurde. Und wenn ich erzählte, dass mein Opa ein Kommunist war, dann weil sich darin eine komplexe Geschichte versteckte, die Vorurteilen entgegengesetzt werden konnte. Weil Syrien ein muslimisches Land sei, aber meine Familie atheistisch war, meine Tanten alle studiert hatten. Weil Syrien eine Diktatur war, aber meine Familie politisch, ja, dies zum Grund der Flucht meiner Eltern wurde. Und das Ende dieser Diktatur wäre ein Grund zurückzukehren.

Meinem Opa war es wichtig, dass seine Töchter auf eigenen Beinen stünden. Sie sollten ihre eigene Wahl treffen können. So war es für ihn unausweichlich, dass sie studieren sollten, arbeiten, ihre eigene Entscheidung in Liebesdingen trafen. Als er im Libanon war, sorgten aber andere Männer für sie. Damals wohnte seine Familie in der Nähe einer Kaserne. Die Soldaten spazierten manchmal durch das Viertel. Meine Tante, die den Frieden im Namen trug, saß im Hauseingang und lernte für ihre Prüfung. Es war zu heiß, um im kleinen Zimmer in der kleinen Wohnung zu lernen. Ihr Cousin befahl ihr ins Haus zu gehen. Sie sah nicht ein, einen Befehl von ihm zu befolgen. Er schlug sie. Mein Opa erfuhr von diesem Zwischenfall und kehrte aus seinem Exil zurück. Er berief die Familie ein. Meine Tante erzählte mir, dass sie sich noch genau an jedes seiner Worte erinnern würde: Wenn ihr eine meiner Töchter mit einem Mann seht, dann geht ihr schweigend weiter.

Bedeutung entsteht durch Beziehungen. Diese Beziehungen bilden ein Netzwerk. Dieses Netzwerk ist in ständiger Veränderung. In diesem Netzwerk steht Revolution für die radikale Umwälzung aller bestehenden Verhältnisse. Die Revolution ist somit per se systematisch. Sie stellt ein System in Frage. Als die ersten Demonstrationen in Syrien stattfanden, sprach niemand von Revolution. Als die Demonstrationen größer wurden, das Gefühl endlich Teil der Geschichte zu sein, ja, wieder an Geschichte teilhaben zu können, da ist etwas passiert, dass sich nicht mehr umkehren ließ, dass mit aller Gewalt bekämpft werden musste.

Ein Traum hingegen besitzt keine Materie, ist etwas das sich eigentlich nicht verwirklichen lässt. Vielleicht erschien die Revolution deshalb als Traum, weil niemand damit rechnete nach vierzig Jahren Schweigen, Bücken und Gehorchen, die eigene Stimme laut zu hören, wie sie das Ende des Regimes verlangte. Der Traum eines jeden Kommunisten ist die Revolution. Marx, so behauptet Hannah Arendt, glaubte nicht an die Erfüllung von Träumen. Für Marx waren Revolutionen eine Notwendigkeit. Und so stellt sich mir die Frage, ob mein Opa die Revolution in Syrien als die Erfüllung eines Traums angesehen hätte?   

In der Zwischenzeit hat ein weiterer Putsch zur Machübernahme durch die Baath Partei geführt. Sie schrieben sich den Arabischen Sozialismus noch größer auf die Fahne als Jamal Abdel Nasser es tat. Meinem Opa wurde geraten seine politische Vergangenheit zu begraben, wenn er je zurückkehren wolle. Nun würde niemand weiterkommen, der nicht mit der Partei Schritt hielt. Und so bekam mein zweiter Onkel einen traditionellen Namen, eigentlich den Namen eines Erstgebornen — Mohammad. Vielleicht war es ein Eingeständnis an die Mutter oder Großtante, die im Sterbebett lagen. Vielleicht war es der Versuch endlich ein normales Leben zu führen, ohne Folter, ohne Flucht und ohne Armut. Folter so hatte ich durch Erzählungen gelernt, diente nicht dazu an Informationen zu gelangen. Folter ist der Ausdruck der Macht eines Menschen über einen anderen. Folter dient dazu einen Menschen zu brechen, ihn dazu zu bewegen sich selbst zu verleugnen. Und so wurde Selbstverleugnung Teil der Erziehung aus Angst. Die Angst hatte sich in den Körper meine Opas eingenistet. Angst löst einen Instinkt in drei Richtungen aus. Angriff, Flucht oder Starre.

Meine Frage mag an dieser Stelle unangebracht erscheinen. Wie kann ein Kommunist nicht von Revolution träumen? Weiß nicht jede Kommunistin, dass sie die Revolution nie erleben würde. Den Blick in die Zukunft gerichtet, gerade dies, zeichnet doch die Aufopferungsbereitschaft dieser Menschen aus. In der Revolution liegt der Wunsch begraben einen Neuanfang zu wagen. Kein Neuanfang entsteht in einem Vakuum. Revolution, in der ursprünglichen Bedeutung, heißt zurück auf Anfang, genau wie die syrische Revolutionsfahne (grün, weiß, schwarz, drei rote Sterne) sich auf die Zeit vor der Regentschaft der Assads beruft. Aber ein Syrien ohne Assad in „Assads Syrien“ heißt, dass ein Traum zum Alptraum wird.

Mein Onkel, der nach dem Propheten benannt wurde, bekam diese Angst als erstes zu spüren. Eine Erziehung zur Mündigkeit stand im Widerspruch dazu diese Mündigkeit nicht zum Einsatz zu bringen. Die Parteimitgliedschaft meines Onkels wurde nicht nur vor der Öffentlichkeit geheim gehalten, sondern auch vor meinem Opa. Seine Sammlung an russischer Literatur landete, sobald sie entdeckt wurde, im Müll. Alles, was mit dem Kommunismus in Verbindung gebracht werden konnte, löste Widerstand aus. Mein Opa diskutierte nicht mehr über Politik. Die Angst, das eigene Kind könne in einem unpassenden Moment etwas offenbaren, das besser versteckt bleiben sollte, führte dazu, dass auch mein Onkel später keine politischen Diskussionen vor oder mit seinen Kindern führte. Mein Opa akzeptierte die Diktatur, und meine Mutter behauptet, er wurde selbst ein Diktator. Weil sich aber jeder Diktator, die eigene Opposition heranerzieht, war meine Mutter seine stärkste.

Wie jeden Freitag sollte es zum Frühstück Foul geben, jenes Essen, das Ägypten vor der Hungersnot rettete. Eines Freitagmorgens verlangte mein Opa von meiner Mutter Foul zu holen. Sie, noch müde, stand auf, ging stattdessen in den Park und schlief dort weiter. Sie kam erst am Abend wieder. Hier trafen zwei Dickköpfe aufeinander und keine*r wollte nachgeben.

Ihre Dickköpfigkeit stellte sie erneut unter Beweis, als sie meinen Vater heiratete, ohne von der Universität graduiert zu haben. Zur Strafe sprach mein Opa ein ganzes Jahr kein Wort mit ihr. Keine seiner Töchter sollte ohne Ausbildung und in Abhängigkeit von einem Mann leben müssen. Erst als meine Mutter schwanger war, flossen die Worte wieder.

Diese Anekdoten sind Zeugen einer komplexen Geschichte. Das Leben meines Opas ist ohne die Geschichte Syriens nicht zu verstehen. Er war dabei, als die Franzosen Syrien kolonialisierten, auch als es die Deutschen zwei Jahre lang verwalteten. Er durchlebte die Zeit der Unabhängigkeit und auch als Syrien zur Vereinigten Arabischen Republik wurde. Er war dabei, als ein Putsch die Baath Partei an die Macht verhalf und sie Jahre später die Golanhöhen verloren. Er war dabei, als die Kommunistische Partei von der Regierung einverleibt wurde. Er war dabei, als die einzige noch existierende Opposition, die Muslimbrüder, den Aufstand probte und die Bevölkerung in Hama dafür bitter bezahlen musste. Den, wenn auch sehr kurzen, Damaszener Frühling und das Ende der Besatzung des Libanons erlebte er im hohen Alter ebenso. Er war nicht dabei, als ich 2010 Syrien wieder betrat. Er war auch nicht dabei, als 2011 die ersten Demonstrationen stattfanden. Er war nicht dabei, als die Forderung nach einem neuen Parteiengesetz aufgestellt wurde. Er war nicht dabei, als der Abtritt Assads gefordert wurde. Er war auch nicht dabei, als fast seine ganze Familie Syrien verließ. Mir stellt sich die Frage, wie mein Opa, die derzeitige Lage in Syrien beurteilen würde. Wäre er für oder gegen die Revolution gewesen?

Jeden Freitagabend traf sich meine Familie bei meinen Großeltern. Sieben Geschwister und ihre Partner*innen, vierundzwanzig Kinder in einer Vierzimmerwohnung. Wenn wir an der Tür klopften und er uns aufmachte, dann war es er, der unsere Hand küsste und an seine Stirn hielt. Nicht umgekehrt, nicht wie es Brauch gewesen wäre und wenn wir uns wehrten, oder nach seiner Hand griffen, dann wurde seine zitternde Hand ganz still, bereit den Kampf aufzunehmen. Während die Erwachsenen im Wohnzimmer saßen, Karten spielten, sich über Politik oder Geld stritten, waren wir Kinder in einem anderen Zimmer und spielten. Manchmal trank er ein Bier oder einen Wodka mit den Erwachsenen, denn wie seine Eltern es ihm im Namen aufgetragen hatten, Nadim, war er jener Freund, der einem einen heiteren Abend bieten konnte. Ich kann mich erinnern, wie mein Opa trotz allem um acht Uhr die Nachrichten in seinem Zimmer schaute und es keiner wagte, ihn dabei zu stören. Ich kann mich noch erinnern, dass mich meine Cousins und Cousinen dazu drängten ihn nach einer Cola zu fragen, wissend, dass er mir das nicht abschlagen würde. Die Cola servierte er in einer Plastiktüte mit Strohhalm. Oder ihn nach Stiften zum Malen zu fragen, er würde nicht nein sagen, mich nur bitten alle Stifte wieder einzusammeln und zurückzubringen. Was ich auch immer gewissenhaft tat. Ich zählte sie vor seinen Augen ab. Ich kann mich erinnern, als ich ihn in der Türkei zum letzten Mal wiedersah und er Witze darüber machte, wie alt er nun sei. Ich kann mich auch erinnern, dass ich mich nicht traute, ihn danach zu fragen, mir von seinem Leben zu erzählen. Und ich kann mich daran erinnern, dass wir beide wussten, dass es ein Abschied für immer war.

Er erschien mir immer als das Ebenbild eines weisen, alten Mannes. Als dieser Mann sollte er in schwierigen Situationen, und diese gab es in seinem Leben zuhauf, wissen, wie zu urteilen wäre. Ohne die Revolution zu mystifizieren, und der Mythos gehört zur Revolution wie der Krieg jetzt zu Syrien, so war die Revolution und ist ihr Ausgang doch ein wichtiges Ereignis, dass den weiteren Verlauf der syrischen Gesellschaft mitbestimmen wird. Wenn das Aufbegehren für grundlegende Menschenrechte auf einer weltweit öffentlichen Bühne mit derartiger Gewalt beantwortet wird, dann lässt sich daraus lesen, welche Stellung ein Mensch auf dieser Erde besitzt. So ist die Frage, welche Haltung jemand gegenüber der syrischen Revolution hat, eine Frage danach, wie ein Mensch in Zukunft leben will.

Nur wird diese Frage, meist mit Blick auf den Ausgang der Revolution beantwortet. Wenn ich die Kinder meines Opas frage, sind sie geteilter Meinung und jede*r beansprucht die richtige Meinung für sich, die Lage richtig einzuschätzen. Und wenn ich frage, was sie glauben, was mein Opa darüber denken würde, so behaupten sie entweder, er wäre ihrer oder der gegenteiligen Meinung. Es steht drei zu vier.  

Betrachtet man das Bild, welches von Assad hier in Deutschland herrscht, so ist er ein skrupelloser, mörderischer Diktator. Was er gewiss auch ist, aber damit wird die Komplexität der Situation ausgeblendet. Bis 2011 gab es in Syrien kostenfreie Gesundheitsversorgung und Bildung. Polio war komplett ausgerottet. Es gab alles, was man sich hätte kaufen wollen, was für einige ein Kriterium sein mag. Man sagte, die eine Hälfte der Syrer ist Arzt und die andere krank. Das war der Ausgleich. Auf der einen Seite war Kritik unerwünscht und auf der anderen Seite konnte der ärmste Bauer auf dem Land sein Kind zur Universität schicken. Ganz gerecht kann kein System sein, vielleicht hätte mein Opa das so gesehen.

Zu diesen Fakten gesellt sich die Lüge. Wie das politische Handeln, ist die Lüge der Beweis unserer Freiheit. Wir können behaupten, dass die Sonne scheint, wenn es regnet. Die Lüge in der Politik bezweckt nicht, dass Menschen an sie glauben, ihr Zweck ist, dass Menschen nichts mehr glauben. Wenn Menschen nichts mehr glauben, dann ist ihnen das Leben egal. Ihre eigenes, und das, der anderen noch mehr. Die anfängliche Hoffnung verwandelt sich nach neun Jahren des Krieges nun in Schweigen. Ein solches Schweigen scheint die einzige Antwort auf den Schmerz zu sein, den ein ehemals hoffender Mensch verspürt. Und so sehnen sich die Menschen sowohl nach dem Fortbestehen einer Diktatur als nach ihrem Ende.

Schweigen heißt aber nicht vergessen. Weil Schweigen trotz allem Spuren hinterlässt, manchmal sehr tiefe. Auch wenn mein Opa nun schweigt, spiegeln sich Spuren seiner Entscheidungen in mir wider. In diesem Bedeutungssystem, das sich Welt nennt, ist die Geschichte meines Opas der Anfang meiner. Je mehr Jahre seit der Revolution vergehen, desto schwieriger wird es mich an ihn zu erinnern und desto größer wird der Zweifel. Dieser Zweifel hat in den vergangenen Jahren ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen. Er wuchs aus der Gegenwart in die Vergangenheit hinein und löste bestehende Verbindungen. Denn wenn auch die materielle Existenz zerstört ist, ist der Weg zum Vergessen nicht weit. Im gleichen Maße wächst die Angst darüber, dass Tag um Tag die Zerstörung immer mehr um sich greift und sich weitere Verbindungen lösen könnten, dass die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart endgültig gelöst werden könnten, beunruhigt, macht rastlos, denn ohne Bezug heißt auch ohne Bedeutung zu leben. Aber weil meine Mutter Hoffnung heißt, lassen sich auch Spuren fortschreiben.

Vita

Luna Ali wurde nach einer syrischen Taschentuchmarke benannt. Den kunstvollen Namen macht sie durch literarisches Schaffen, kuratieren für das Fuchsbau Festival, Workshops geben und auf diversen deutschen Ämtern als Sprachmittlerin weiter bekannt.