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Zytanien – Hommage an unser zweites Zuhause

Johanna Ekenhorst

Zwischen der Autobahn A2 und der ICE-Strecke, die Hannover mit Berlin verbindet, zwischen der Kleinstadt Lehrte und den Orten Immensen und Arpke, endet Deutschland. Inmitten eines Landschaftsschutzgebietes, mit drei Badeseen in fußläufiger Entfernung, und “statt in Lehrte” sind wir zu Gast in Zytanien, einem Ort, dessen Geschichte kaum vielfältiger sein könnte.

In den 1980er Jahren versammelten sich Jugendliche aus der Umgebung in den Hallen und Ruinen der verlassenen Fabrik, um abzuhängen, Partys zu schmeißen und ihre Liebhaber:innen außerhalb der Reichweite konservativer Familien zu treffen, bis einige im August 1986 beschlossen, zu bleiben. Sie machten sich den Ort zu eigen und schufen sich den Raum, den sie brauchten. Erst für einige Nächte, aber bald für immer, dabei anfangs ohne Strom, fließendes Wasser oder Heizung, aber mit vielen Möglichkeiten zum Experimentieren.

© Manuel Meinhardt

Zeitlich fällt die Besetzung des Ortes in die Blütezeit der europäischen Hausbesetzerbewegungen. In Hannover wurde die Schokoladenfabrik Sprengel besetzt. Es gibt jedoch Stimmen, die besagen, dass das Projekt besser im lokalen Kontext verstanden werden kann: Ganz anders als die städtische Szene war die alternative Szene der Region um Lehrte groß, lebendig und jung und versammelte sich in Orten wie „Das Andere Kino“, dem Fairtrade-Laden „Liberacion“, der Bar „Radio“ in Lehrte oder dem Bauerngasthof in Uetze. Diejenigen, die die ersten Hausbesetzer:innen der ehemaligen Ziegelei wurden, kamen aus der Region – sie hatten sich im Geiste bereits ein Leben ausgedacht, das sich von dem ihrer Elterngenerationen unterschied, bevor sie einen Ort fanden, an dem sie tatsächlich so leben konnten, wie sie es wollten. In diesem Sinne geschah die Hausbesetzung – eine sanfte Übernahme, die trotz Konfrontationen mit der örtlichen Polizei immer friedlich blieb – eher aus Notwendigkeit und aus Verzweiflung heraus. Gleichzeitig war der Wunsch, (Infrastruktur-)Strukturen für lokale utopische Imaginationen zu schaffen viel größer als der, per se ein politisches Statement abgeben zu wollen. Viele Menschen, die diese „Kleinstadt-Euphorie“ mitgestalteten und zelebrierten lebten nicht von Anfang an in Zytanien, sondern pendelten aus einem der umliegenden Dörfer in die damals nur „alte Ziegelei” genannte Fabrik.

Der Name Zytanien kam später und wurde aufgrund des zufälligen Besuchs eines Immenseners geboren. Er war ein ehemaliger Angestellter einer Firma namens Zytan AG, die sich ab 1976 darum bemüht hatte, Blähtonkugeln im Werk zu dem neuen, leichten und wärmedämmenden Baustoff „ZYTAN“ verarbeiten. Das große Interesse an diesem neuen energiesparenden Baustoff lässt sich vor dem Hintergrund der Ölkrise 1973 mit ihren kurzen autofreien Sonntagen besser verstehen. Bereits zehn Wochen nach der Gründung gelang es dem Unternehmen, Risikokapitalgeber:innen zu gewinnen und sein Kapital von 0,5 Mio. auf 10 Mio. DM aufzustocken. Doch was unter Laborbedingungen zu hervorragenden Ergebnissen geführt hatte, erwies sich als viel zu kostspielig und schließlich in der industriellen Produktion als nicht realisierbar: 1981, nur fünf Jahre nach der Gründung, meldete das Unternehmen Insolvenz an und verließ den Standort. Neben dem Namen zeugen kleine runde Blähtonkörner, die überall im Gelände verstreut sind, von dieser Zeit. Als besagter Immensener Jahre nach der Pleite seine ehemalige Arbeitsstelle besuchte, traf er auf einige der Hausbesetzer:innen. Während des folgenden Gesprächs wurde der Name „Zytanien“ geboren.

Das erste Festival, oder besser gesagt eine erste große Party, fand im Sommer 1987 mit den hannoverschen Punkbands Boskops und Abstürzende Brieftauben statt. Seitdem wird das Open-Air-Festival, mit Ausnahme der Covid-Jahre 2020 und 2021, jährlich von den wechselnden Generationen der Bewohner:innen und deren Freund:innen organisiert. Es bringt Musik aller Genres zusammen – von elektronischem Tanz bis zu Punk-Konzerten – jammende Besucher:innen, bunte, selbstgestaltete Bühnenbilder und Dekoration, Kunsthandwerksstände und die örtliche Bäckerei. Die Einnahmen des Festivals, das jedes Jahr zwischen 2000 und 4000 Besucher:innen anzieht, tragen zur Entwicklung und Erhaltung der Infrastruktur von Zytanien bei. Es geht weniger ums Geld als darum, den Ort am Leben zu erhalten.

© Manuel Meinhardt
© Manuel Meinhardt
© Manuel Meinhardt

Anfang der 1990er-Jahre kaufte der Bauherr und Investor Günter Papenburg das Gelände still und heimlich ohne Wissen der Anwohner:innen mit dem Plan, eine Giftmülldeponie zu errichten – was Lobbyarbeit und gute Kontakte zu Kommunalpolitiker:innen und lokalen Bürgermeister:innen unabdingbar machte. Begünstigt durch amouröse Bindungen zu seiner Stieftochter wurde Gerhard Schröder, SPD-Politiker und späterer Bundeskanzler, zum Vermittler zwischen Papenburg und den Hausbesetzer:innen. Als niedersächsischer Ministerpräsident von 1990 bis 1998 lebte er damals im Nachbarort Immensen. Schließlich konnte ein Mietvertrag abgeschlossen werden, der es den Besetzer:innen ermöglicht, legal in Zytanien zu bleiben. Die Bewohnung und kulturelle Nutzung der Räumlichkeiten blieb und bleibt jedoch in einer rechtlichen Grauzone: Gebäude- und Hausratversicherungen konnten zum Beispiel nicht abgeschlossen werden.

Seit seiner friedlichen Besetzung ab 1986 haben wechselnde Generationen Zytanien zu ihrem Zuhause und Spielplatz gemacht. Vereint durch das Streben nach Freiheit, Ruhe und der Flucht vor gesellschaftlichen Normen wurden die Vorstellungen davon, wie ein solches Leben aussehen könnte, ständig verhandelt, innerlich und äußerlich. Als Papenburg 2018 plötzlich und unerwartet den Mietvertrag zum Jahresende kündigte, um das Gelände zu verkaufen, ging der Platzkampf der Zytanier:innen weiter. Doch in der öffentlichen Wahrnehmen hat sich das Image von Zytanien mit den Jahren verändert. Heute gilt der Ort immer weniger als Hippie-Kommune, sondern hat sich als wichtiger Veranstaltungsort etabliert, der die Kulturszene der Region bereichert. So werden die Bemühungen der Anwohner:innen, das Areal zu kaufen und zu erhalten, von der Gemeinde Immensen unterstützt.

Derzeit leben rund 20 Menschen ganzjährig in Zytanien. Die meisten der heutigen Bewohner:innen sind in der Region aufgewachsen. Die meisten haben sich ihren Wohnraum selbst gebaut. Einige wohnen im Haus. Manche leben in Wohnwagen oder selbstgebauten Hütten. Einige haben sich in einer Ecke einer der alten Fabrikhallen einen kreativen Platz geschaffen. Einige leben autark und halten Schweine und Hühner. Andere pendeln zu Arbeit oder Ausbildung in die umliegenden Städte. Einige reparieren Autos. Einige sind gegangen und zurückgekehrt. Manche sind einfach weggegangen – in die Stadt, an einen ganz eigenen Ort, ins Ausland. Eine Zeit lang ließen sich Punks in einem Wohnwagenpark hinter der Hauptbühne nieder, machten ihr Ding, verbrannten Sofas am Lagerfeuer. Manche begannen schon lange vor ihrem Einzug mit ihren Freund:innen Silvesterpartys in der Fabrikhalle namens „Weltraum“ zu veranstalten, meist unbehelligt von den damaligen Bewohner:innen. Sie traten dem Plenum erst bei, als sie gebeten wurden, die Ongolito-Bühne des Festivals (die Bühne, die auch für die Show „Experimentelle Landpartie“ genutzt wird) beim Zytanien-Festival zu übernehmen, und beschlossen schließlich, dort einzuziehen, als Wohnraum frei wurde.

Zytanien heißt Gäste und Mitbewohner:innen auf Zeit wie Gesellen oder Sommergäste stets willkommen. Einige vorübergehende Mitbewohner:innen bleiben schließlich. Manche sind Stammgäste aus der Region, helfen bei Bau- und Reparaturarbeiten während des sogenannten „Agierungswochenendes“ und sind mit schweren Baumaschinen 25 Kilometer und mehr unterwegs, um eine Halle zu betonieren. Einige Menschen kommen, um neue Graffiti zu sprühen. Sie alle malen, formen und überschreiben kontinuierlich die Geschichte des Ortes.

Es gibt gemeinsame Veranstaltungen wie das jährliche Zytanien-Festival oder Rave-Partys, die von Bewohner:innen und Freundesfreund:innen organisiert werden. Entscheidungen werden in regelmäßigen Versammlungen während des monatlichen Plenums mit ⅔ Mehrheitsbeschluss getroffen; mal einfach, mal umstritten. Und dennoch gibt es an diesem Ort und in dieser Gemeinschaft irgendwie einen Pragmatismus und ein Ethos, einfach zu tun, was du willst – eine berauschende Gleichzeitigkeit von herzlichem Empfang, Laissez-faire und klaren Regeln darüber, wen man um was bitten darf.

Seit 2015 ist das Fuchsbau Festival auf dem Zytanien-Gelände zu Gast. Die Organisation des Festivals wäre ohne die gemeinsame Nutzung von Wissen und Infrastruktur, sowie ohne die ausgewiesenen technischen und mechanischen Fähigkeiten der Zytanier:innen schlicht und einfach nicht möglich. Was anfangs eine pragmatische Lösung schien, hat sich über die Jahre hinweg als zweites Zuhause entwickelt. Und so ist dieser Text auch als Hommage an diesen so besonderen Ort und seine Menschen zu verstehen. Ein Ort, der (fast) alle willkommen heißt, auch unerwartete Gäste und Zusammenschlüsse wie ein Motorradtreffen, einen Autofahrer:innenchor, der zu Beginn der Corona-Pandemie auf der Wiese singt, ein christlicher Gottesdienst einer Ortskirche (immerhin gibt es historische Verbindungen zur Orts-SPD) oder eben uns – das Fuchsbau-Team samt Künstler:innen und Freundesfreund:innen. 


Dieser Text wurde mit der Erfahrung in Zytanien zu Gast zu sein und mit den abstrahierten Stimmen einiger Zytaniener:innen geschrieben, mit (und teilweise gegen) Informationen, die im Internet öffentlich zugänglich sind, historischen Wertpapieren und mehreren Artikeln aus regionalen Zeitungen und Fernsehsendern: